Diese Website verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen.
Mit der Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden. Alle Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Erstellt am 29.09.2020

Wien nach vorne bringen

von Reinhard Göweil

Österreich hat einen 39jährigen Finanzminister, der Philosoph ist und Wiener Bürgermeister werden will. Das kling super. Europa könnte uns beneiden. Überall sonst blasse Bürokraten, aber in Österreich – ja, da hält die Welt wieder einmal Probe. Und auf wen beruft sich dieser Finanzminister/Philosoph/Bürgermeister-Kandidat? Auf Sören Kierkegaard – besser geht’s nicht. Der Däne Kierkegaard (1813 – 1855), Philosoph, Theologe, Zweifler, depressiv und am übermächtigen Vater zerschellt; auf ihn berufen sich auch Existentialisten wie Jean-Paul-Satre.

Ja, so bunt könnte sie klingen, die Geschichte von Gernot Blümel.

Und dann löscht er einen kurzen, heftigen Text von Robert Menasse. Der Schriftsteller, für seine klaren Worte be- und anerkannt, zählt zu jenen Künstlern, die weit über ihr Land hinauswirken. Ob Kierkegaard der polemische Text von Menasse gefallen hätte, lässt sich nicht mehr sagen. Den Social-Media-Beauftragten des Wiener ÖVP-Chefs und Bürgermeister-Kandidaten Blümel gefiel er nicht. Er wurde gelöscht, weil das Wort Hitler darin vorkam. Der Philosoph Blümel nahm Zuflucht zur Dialektik: „Ich weiß schon, Menasse hat es sicher so nicht gemeint, aber es gibt halt Diskussions-Regeln, und die gelten für alle.“

Nun ist Kierkegaard einer gewesen, der sich mit Angst als Triebfeder beschäftigte (und das sauber von der Furcht unterschied).

Muss nun jeder Angst haben, der das Wort Hitler bloß verwendet? Muss sich nun ausgerechnet Robert Menasse implizit vorwerfen lassen, NS-Gedankengut zu verbreiten?

Das ist lächerlich, und die unvermeidlichen wie unerträglichen Postings in den Online-Foren wie beispielsweise des „Standard“ beweisen wie furchtbar diese Argumentation wirkt. Hier und jetzt wird Gesellschaft gespalten.

Eigentlich müsste sich Gernot Blümel philosophisch einmischen, denn Spaltung lag ganz offensichtlich nicht im Interesse Kierkegaards, der den Unterschied zwischen Christen und christlichen Funktionären beklagte.

Tut er aber nicht, denn es gibt einen Bereich, der Blümel schwerer trifft: Was bedeutet es, Wien „wieder nach vorne“ zu bringen? Menasses‘ Polemik zielt auf die dunklen Punkte der Christlich-Sozialen in Wien. In der Ersten Republik waren sie demokratiepolitisch desaströs. In der Zweiten Republik roch es wirtschaftspolitisch oft muffig. Warum die ÖVP Anfang der 1980er Jahre gegen die „UNO-City“ mittels Volksbegehren mobil machte, wird in der heutigen Jungen VP niemand mehr verstehen.

Aber Kritik ist oftmals einfacher als Gestaltung. Der Philosoph Blümel sagt, dass Wien beim verfügbaren Einkommen in den vergangenen Jahren im Vergleich zu anderen Bundesländern zurückgefallen ist. Das ist richtig. Es lag aber mehr an dynamischen Industrie-Regionen wie Oberösterreich als am Versagen Wiens.

Zwar hat sich Wien in punkto Lebensqualität einen exzellenten Ruf erarbeitet, aber insgesamt hätte es wirtschaftlich schon besser laufen können. Die Stadt tat sich hart, den enormen Zuzug der vergangenen Jahrzehnte auch am Arbeitsmarkt umzusetzen, die Verschränkung mit dem niederösterreichischen Umfeld funktionierte schlecht.

Verwaltung top, deren Kosten auch

Wien ist – im Verein mit kleineren skandinavischen Schwesterstädten – die vermutlich bestverwaltete Hauptstadt Europas. Zwar teuer und mit bürokratischen Anomalien, aber alles funktioniert. Als Forschungs-Standort könnte Wien besser dastehen, aber das liegt nicht an der Stadtregierung allein. Der Bildungs-Standort Wien hat im Kunst-Bereich internationale Geltung, aber in den Naturwissenschaften und Teilen der Geisteswissenschaft hinkt Wien hinter drein. Das Schulwesen ist bürokratisch bis zum Abwinken. Dessen flächendeckende Existenz ist kein Arbeits-Nachweis.

Die Beispiele ließen sich fortsetzen, getreu dem Motto: Wien nach vorne bringen.

Wenn der Philosoph Blümel seinen Slogan nicht mit Inhalten füllt, sondern mit der Löschung des Textes eines bekannten Schriftstellers, dann gilt der Spruch von Ex-Bürgermeister Michael Häupl, der Wahlkampf als Zeit der „fokussierten Un-Intelligenz“ definierte.

Ob es nach der Wahl am 11. Oktober besser wird? Hier hilft uns wieder Kierkegaard: Entweder man glaubt oder man glaubt nicht. Punkt.

Und hier der gelöschte Text von Robert Menasse zum Nachlesen:

Lieber Gernot Blümel,

was meinen Sie mit „Wien wieder nach vorne zu bringen“? Was ist „vorne“? Wo ist dieses „vorne“? Wieso „wieder“? Das bezieht sich offenbar auf die Geschichte der Stadt – wann war Ihrer Meinung nach Wien „vorne“, und daran müsse man nun „wieder“ anschließen? Meinen Sie Zeit VOR dem roten Wien, als die Stadt einen antisemitischen Bürgermeister hatte, von dem Hitler lernte? Können Sie sich bitte konkret ausdrücken? Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: So gut wie alles, was Wien heute so lebenswert macht und international bewundert und von den Wienern geliebt wird, hätte es mit Christdemokratischer bzw. ÖVP-Regierung nicht gegeben: Gemeindebauten, sozialer Wohnbau (und dadurch immer noch einigermaßen leistbares Wohnen), denn Christdemokraten haben nie gezeigt, dass sie in Wien bauen können oder wollen, sie haben nur gezeigt, dass sie in Gemeindebauten hineinschießen, weiters: es gäbe keine Fußgängerzonen (ich erinnere mich, wie die ÖVP schon gegen die erste Fußgängerzone, am Graben, mobilisiert hat), es gäbe keine U-Bahn (ich erinnere mich, wie die ÖVP gestänkert hat, dass mit der U1 jetzt Proleten in 10 Minuten in die City kommen können…), es gäbe keine Donauinsel (ich erinnere mich, wie die ÖVP dagegen mobilisiert hat, zum Glück hilflos!), es gäbe keine UNO-City und kein Konferenz-Zentrum (die ÖVP hat ein Volksbegehren gegen Wien als Internationale Metropole gestartet), und es gäbe keine Stadterneuerung (die ÖVP wollte, dass Hauseigentümer abreißen und demolieren können, wenn es Spekulantenprofit verspricht), und und und und – und Sie, Herr Blümel, wagen es, Wien schlecht zu machen und glauben im Ernst, dafür gewählt zu werden?

Sie, als Vertreter einer Partei, die, zum Glück erfolglos, die Entwicklung Wiens zu einer lebenswerten und bunten Metropole bekämpft hat, wollen Wien in ein „vorne“ bringen, das Sie selbst nicht genauer definieren können, das aber nach allen Erfahrungen mit Ihrer Partei näher beim Mittelalter ist als bei den Bedürfnissen der Zeitgenossen. Als Finanzminister wurden Sie auffällig als einer, der sechs Nullen vergisst. Dann waren Sie nicht imstande, ein EU-Formular korrekt auszufüllen. Ich empfehle Ihnen zu schweigen.