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Erstellt am 17.01.2019

Die Brexit-Identität

Sirtaki in London oder was passiert dort am Montag?

von Reinhard Göweil

Derzeit erinnert die Politik des Vereinigten Königreichs an Griechenland. Nicht an Staatspleite oder Mazedonien-Sache, sondern an den verfilmten Roman „Alexis Sorbas“. Selbiger sagte zu seinem (britischen!) Möchtegern-Unternehmer Basil, als am Schluss die existenzielle Seilbahn zum Bergwerk auf Kreta zusammenkracht, sinngemäß und lachend: „Hast du schon jemals etwas so schön einstürzen gesehen?“
Wir wissen, dass Theresa May nicht tanzen kann, und dürfen das qualifiziert von Jeremy Corbyn auch annehmen. Der lebensbejahende Sirtaki, der materielle Probleme beseitigt, wird wohl nicht getanzt werden in London. Dabei ist die zweitägigen Brexit-Abstimmungsergebnisse im „House of Commons“ nur noch mit Einsturz-Parabeln zu erklären.
Der gescheiterte Misstrauensantrag der Labour-Partei gegen Theresa May offenbarte, was für ein schlechter Politiker Jeremy Corbyn ist. Er hat wohl gewusst, dass er in eine Niederlage marschiert, und musste daher wissen, dass er damit dem Vereinigten Königreich erheblichen Schaden zufügt. Derzeit stehen also am innerbritischen Schlachtfeld: Eine Premierministerin, die mit ihrem Brexit-Deal sehenswert gescheitert ist, nachdem sie dessen Abstimmung zur wichtigsten überhaupt erklärt hatte. Ein Oppositionsführer, der am Tag danach es schaffte, mit einem Misstrauensantrag gegen eine kaum noch stärker zu schwächende Kontrahentin zu unterliegen. Ein britisches Parlament, das seit 2016 sagt, was es nicht will, aber noch nie, was es will.
Wie geht es also weiter? Nun, das ist so schwer nicht: Entweder die britische Regierung bleibt bei ihrem jetzigen Deal, dann ist jede weitere Zeit verschwendet.
Die britische Regierung legt etwas völlig Neues vor, das allerdings der EU bekannt vorkommt: Regelungen a la Norwegen oder Schweiz.
Das würde aber eine enge Anbindung der Briten an die EU auch in Zukunft bedeuten. Mit Beiträgen, ohne Teilnahme am Europäischen Parlament und in den EU-Institutionen. Oder es gibt es einen Hard Brexit.
Dazwischen ist wenig vorstellbar, selbst wenn der Austritt auf Anfang Juli 2019 verschoben wird. Natürlich wird es viele politische Nebelgranaten geben, sowohl aus Brüssel als auch aus London. Aber das ändert nichts an der Ausgangslage.
Am Montag muss die britische Regierung etwas Neues vorlegen, sonst hätte eine Verschiebung über den 29. März hinaus keinen Sinn.
Da das britische Parlament keinen „hard brexit“ möchte, wird es wohl in eine Lösung gehen, die eine Anbindung an die EU sicherstellt. Das wird Herr Farrage nicht gerne hören, aber who is Farrage?
Um das durchzubringen, benötigt Theresa May aber die Zustimmung der oppositionellen Labour-Abgeordneten, um renitente Mitglieder ihrer eigenen Partei zu überstimmen. Das hat Angela Merkel im deutschen Bundestag auch schon erlebt, als sie bei den Griechenland-Hilfen nur mit Abgeordneten anderer Parteien die Mehrheit sichern konnte.
So ist halt Europa, es erweitert unseren Horizont. In Großbritannien würde das allerdings das Ende des Mehrheitswahlrecht-Systems bedeuten, eine Zäsur.
Aber der aktuelle amerikanische Präsident hat gerade öffentlich erklärt, dass er kein russischer Spion ist. Der Brexit, wie immer und ob überhaupt, wird Europa ähnlich verändern. Disruption wird das in der Wirtschaft genannt. Und gilt für die Politik auch.
Und jetzt gemma Sirtaki tanzen.

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Im Brexit-Nebel fahren Investoren auf Sicht

Von Reinhard Göweil

Im Londoner Brexit-Nebel fahren auch die Anleger vorsichtig und auf Sicht. Die Aktienbörsen reagierten auf die krachende Abstimmungs-Niederlage der britischen Regierung im Parlament ziemlich unbeeindruckt, hier war mit dem Ergebnis wohl gerechnet worden. Eher überraschend ist die Reaktion auf den Devisenmärkten, das Pfund legte – zum Dollar – sogar leicht zu. Analysten meinen allerdings, dass die Devisenmärkte das allgegenwärtige politische Risiko auch von entwickelten Industrieländern nicht richtig einschätzen können. Hier haben ausschließlich wirtschaftliche Faktoren das Sagen, politische Irrlichter werden eher ausgeblendet.
Vielleicht hat hier Donald Trump für eine neue Sicht gesorgt, denn dessen Tweets sollten eigentlich wöchentlich für Panik sorgen. Das tun sie aber nicht, es ist vielleicht einfach zuviel des Schlechten.
Das offenkundige Unvermögen der britischen Politik, mit dem EU-Austritt zu Rande zu kommen, könnte hier im Schatten Trumps segeln – der ist noch unberechenbarer.
Zudem sorgt die Unklarheit, was denn nun wirklich passieren wird, für Stillstand. Möglich ist durchaus, dass es kurzfristig steil bergauf geht bei britischen Papieren, sollte es ein zweites Referendum geben. Die Märkte leben praktisch von Tag zu Tag, sie gehen „short“ und vermeiden langfristige Verpflichtungen. Und egal was passiert, eine Finanzkrise des Vereinigten Königreichs hat niemand auf dem Radar – es wird also irgendwie weitergehen. Und es ist ja immer noch ganz ausgeschlossen, dass die Briten in der EU bleiben. Da will wohl niemand auf dem falschen Fuss erwischt werden, also wird dieses Fahren auf Sicht noch eine Weile beibehalten.
Manche Investoren warten auch darauf, dass der Brexit zu Verwerfungen im UK führen wird, und bereiten sich wohl auf eine Schnäppchenjagd vor. Der Immobiliensektor steht da im Rampenlicht, vor allem im Großraum London. Bei gewerblichen Immobilien gibt es Analysen, die einen mehr als 30prozentigen Preisverfall im Durchschnitt erwarten.
Interessant ist eher, dass in Kontinental-Europa der Brexit kritischer betrachtet wird, obwohl eindeutig die EU weniger stark belastet werden würde. Vielleicht spielen hier eher panische Aussagen von deutschen Spitzenpolitikern eine Rolle. Man hat ja manchmal den Eindruck, dass sich der deutsche Finanzminister größere Brexit-Sorgen macht als die britische Premierministerin, wenigstens bei deren öffentlichen Auftritten. Immerhin gab der Euro gegen den Dollar nach der Abstimmung in Westminster nach, das Pfund nicht.
Es wäre angebracht, die Brexit-Kommunikation den Brüsseler Institutionen zu überlassen. Denn die reagierten recht besonnen auf die 230-Stimmen-Niederlage von Theresa May im britischen Unterhaus. EU-Chefverhandler Michel Barnier stellte sogar neue Ideen in Aussicht, obwohl es gerade in Brüssel viele Spitzenleute gibt, die gar nichts gegen einen Austritt Großbritanniens hätten – zu obstruktiv verhielt sich das Königreich in den vergangenen Jahren gegenüber Europa.
Klar ist allerdings auch, dass sich die aktuelle Polit-Hysterie in den kommenden zehn Wochen legen wird. Sowohl in Großbritannien als auch in der EU-27 wird sich der simple Fakt durchsetzen, dass durch einen Austritt der jeweils andere nicht verschwinden wird. Großbritannien wird ohne EU nicht reüssieren, und die EU benötigt Großbritannien politisch fast stärker als wirtschaftlich. In der Sicherheitspolitik ist Europa konfrontiert mit Nato-Austritts-Phantasien von Donald Trump und einem expansiver werdenden Russland. Eine europäische Sicherheitspolitik ohne die Briten ist aber undenkbar.
Umgekehrt gibt es ohne EU-27 keine wirtschaftliche Prosperität und gesellschaftliche Stabilität auf der britischen Insel. Dass der Brexit über kurz oder lang Schottland aus dem Vereinigten Königreich herauslöst, sollte mittlerweile auch ein minderbegabter Abgeordneter verstanden haben.
All dies wird in Zahlen gegossen und Finanzmarkt genannt. Und diese Interdependenz zwischen UK und EU kam bisher deutlich zu kurz. Den wirtschaftlichen Akteuren ist sie klarer als manchen politischen, daher fahren alle auf Sicht und hoffen, dass die berühmten Londoner Nebel wieder lichten.
Ein Hard Brexit wäre auch eine klare Sicht auf die Dinge, aber die mit weitem Abstand dümmste – und teuerste. Die Hoffnung auf diese Erkenntnis lebt, auch wenn sie kleiner geworden ist. Eine Verschiebung des Datums würde die Nebel-Phase nur unnötig verlängern, auch wenn sie politisch wahrscheinlich ist.